Koexistenzen
Über menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen
Aufsatz | Regine Rapp
R. Rapp: Koexistenzen. Über menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen [Co-Existences. On Human and Nonhuman Agents], in: Kunstforum International, Bd. 281, 04/2022, [syn]Zusammen [bios]Leben, S. 82 – 93.
Einführung
„Die Erkenntnis, dass wir stets in Symbiose leben, also in einem System aus Lebewesen verschiedener Arten mit körperlichem Kontakt,[i] ist in der jüngsten künstlerischen Forschung der Hybrid Arts intensiv verarbeitet worden.[ii] Das Konzept Nonhuman Subjectivities greift den Symbiose-Gedanken auf und untersucht aktuelle künstlerische Positionen, die nichtmenschliche Organismen – Tiere, Pflanzen, Pilze, Mikroben – ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung stellen. Das Forschungsprojekt steht in unmittelbarer Verbindung mit den Forschungs- und Ausstellungsreihen (2016–2019) von Art Laboratory Berlin.[iii] So unterschiedlich ihre künstlerischen Strategien, Formate und ästhetischen Kriterien auch sind, so vereint die künstlerischen Positionen das Interesse an Auffassungen von Handlungsfähigkeit und Empfindungsvermögen nichtmenschlicher Wesen. Damit gehen Ideen menschlich-nichtmenschlicher Kommunikationsformen sowie eine kritische Revision von Intelligenz-Definitionen einher, erweitert durch Konzepte des Posthumanismus und des Material Turn.[iv]
Der vorliegende Beitrag geht mit einer unmittelbaren Kritik am Anthropozentrismus einher. Zentral ist dabei die Idee einer dezentrierten Neupositionierung des Menschen in einer Zeit, in welcher die durch Menschen verursachten Auswirkungen auf die Umwelt gravierend und oftmals unumkehrbar sind.[v] Grundlegend ist die Bewusstwerdung steter zwischenartlicher Verbindungen: ‚To be one is always to become with many‘.[vi] Auch in den darauf folgenden Forschungsprojekten bei Art Laboratory Berlin wie etwa Mind the Fungi (2018-20), The Camille Diaries. New Artistic Positions on M/otherhood, Life and Care (2020) oder Under the Viral Shadow. On Networks in the Age of Technoscience and Infection (2021) steht der Gedanke der Symbiose immer wieder stark im Zentrum der Auseinandersetzungen. Dieser zielt zum einen auf biopolitische Aspekte, zum anderen adressiert er die Dichotomie des Technologischen und Biologischen.
Die […] vorgestellten künstlerischen Positionen befassen sich mit unterschiedlichen Ansätzen und Schwerpunkten von Ko-Existenzen menschlicher und nicht-menschlicher Akteur:innen.“
[…]
[i] Lynn Margulis: Der symbiotische Planet, Frankfurt/Main 2017, S. 10 (The Symbiotic Planet, New York 1998).
[ii] Regine Rapp: „Hybrid Art“, in: Ronald Grätz/Maike Weißpflug (Hg.): NaturKultur, Göttingen 2021, S. 74-81.
[iii] Nonhuman Agents in Art, Culture and Theory, interdisziplinäre internationale Konferenz, konzipiert und realisiert von Regine Rapp und Christian de Lutz, Art Laboratory Berlin, 24.-26.11.2017. Zum Konzept der Konferenz: „Als theoretische Ergänzung zu unserer laufenden Reihe Nonhuman Agents (Juni–Dezember 2017) vereinte Art Laboratory Berlin – gemeinsam mit unseren Partnern, dem Institut für Kunst und Medien, Universität Potsdam – internationale Künstler:innen, Wissenschaftler:innen aus Natur- und Geisteswissenschaften verschiedener Disziplinen, um künstlerische, philosophische, ethische und naturwissenschaftliche Ansätze über nichtmenschliche Akteure zu diskutieren. Bisherige Positionen aus unserer Reihe Nonhuman Subjectivities (2016-17) wurden miteinbezogen.“ (Rapp/de Lutz, ebd.). Die Konferenz umfasste 25 Beiträge von Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus den Natur- und Geisteswissenschaften (Mikrobiologie, Botanik und Kunstwissenschaften, Philosophie und Geschichtswissenschaften). Alle Beiträge wurden per Video aufgezeichnet und sind online zugänglich: https://artlaboratory-berlin.org/de/publikationen/nonhuman-agents-in-art-culture-and/ (zuletzt aufgerufen: 3.1.2022). Die in den Jahren 2016 bis 2019 präsentierten und erforschten Künstler:innenpositionen sind: François-Joseph Lapointe, Saša Spača (mit Mirjan Švagelj, Anil Podgornik), Tarsh Bates, Joana Ricou, Rachel Mayeri, Maja Smrekar, Brandon Ballengée, Katya Gardea Browne, Pinar Yoldas, Robertina Šebjanič, Alinta Krauth, Heather Barnett, Theresa Schubert, Margherita Pevere, Sarah Hermanutz, Alanna Lynch, Špela Petrič, Kat Austen, Mary Maggic, Fara Peluso und Vivian Xu.
[iv] Als theoretische Grundlage für das Konzept Nonhuman Subjectivities waren u.a. folgende Publikationen wesentlich: Donna J Haraway: When Species Meet, University of Minnesota Press 2008; Rosi Braidotti: On the Posthuman; Cambridge 2013; Grusin, Richard: The Nonhuman Turn, Minneapolis 2015; sowie John Gray: Straw Dogs. On Human and Other Animals, London 2002.
[v] Nicht ohne Grund verweist Richard Grusin in seinem Vorwort von The Nonhuman Turn auf sämtliche durch den Menschen entstandene aktuelle Katastrophen und die Notwendigkeit, sich allem Nichtmenschlichen zuzuwenden: „Angesichts der Tatsache, dass fast jedes nennenswerte Problem, mit dem wir im einundzwanzigsten Jahrhundert konfrontiert sind, mit dem Umgang mit dem Nichtmenschlichen zu tun hat – vom Klimawandel, Dürre und Hungersnöten bis hin zu Biotechnologie, geistigem Eigentum und Privatsphäre; bis hin zu Völkermord, Terrorismus und Krieg – scheint es keine passendere Zeit als die der Gegenwart zu geben, um unsere zukünftige Aufmerksamkeit, unsere Ressourcen und unsere Energie auf das Nichtmenschliche im weitesten Sinne zu lenken.“ Vgl. Richard Grusin: The Nonhuman Turn, (wie Anm. 4), p. vii, Übersetzung der Autorin.
[vi] Donna J. Haraway: When Species meet (wie Anm. 4), S. 4.
Gesamter Text hier erhältlich:
https://artlaboratory-berlin.org/assets/pdf/281_KUNSTFORUM_International_Rapp_Koexistenzen-1.pdf